Zwei Wölkchen am strahlend blauen Himmel über Tel Aviv, ein dumpfer Ton, alle Gesichter nach oben gewandt: Die israelische Luftabwehr hat wieder eine Hamas-Rakete getroffen. Das Leben am Flughafen wird kurz unterbrochen. Dann geht es weiter. Auch wir wenden uns Richtung „Departure“ – nach fünf Tagen Palästina.
Aaliyah Saraí, das einjährige Kind der Palästinenserin Sundus und des Goslarer Simon Ruhe, in Ägypten gezeugt, in Spanien geboren, in Österreich aufwachsend, wird in dieser Zeit getauft und wir sind Zeugen, Zeugen nicht nur der Taufe.
Beit Jala liegt unmittelbar neben Bethlehem. Die Stadt hat etwa 12.000 Einwohner und ist zehn Kilometer von Jerusalem entfernt. Während der zweiten Intifada 2000 griffen von hier militante Palästinenser Gilo, eine der aggressiven jüdischen Siedlungen, an, mit denen Schritt für Schritt den Palästinensern ihr Land genommen worden ist.
In Beit Jala sind 80% der Bewohner Christen – ungewöhnlich für Palästina. Hier ist Sundus Ruhe mit ihren vier Schwestern, Töchter von Ghasub und Mai Nasser, aufgewachsen und in die Schule Talitha Kumi gegangen.
Ein Taxi fährt uns von Tel Aviv nach Beit Jala. Als wir das Land queren, deutet nichts auf den Konflikt hin und doch wissen wir, dass nicht weit von hier gekämpft wird.
Widersprüchliche Gefühle steigen in uns hoch. Wir sind identifiziert mit den Palästinensern, die schon 1000 Tote beklagen. Wir identifizieren uns mit den Israelis, die unter dauerndem Raketenbeschuss leiden. Wir verstehen die Wut der unterdrückten Palästinenser und wir verstehen die Angst der Juden. Wir kennen die historischen Fakten, die „Zion“-Idee und wissen auch, dass den Palästinensern das Land gestohlen wurde – ein Volk in der Mühle der Großmachtpolitik. Aber wie positioniert man sich? Was sind die richtigen Antworten. Unsere Antworten?
Wir haben Zimmer in „Abrahams Herberge“, einem kleinen Gästehaus mit Blick auf den Geburtsort Jesu. Als wir vor wenigen Jahren hier waren, pulsierte das Leben und Versöhnungsprojekte genossen die Unterstützung deutscher Kirchengemeinden. Jetzt ist es still geworden. Ein Teil der Räume steht ungenutzt leer und niemand weiß, wie es weiter gehen soll. Abraham ist Stammvater der drei großen Religionen Judentum, Islam und Christentum. Alle Menschen sollen hier ihren Platz haben.
Wir sprechen mit Ghasub Nasser, Patriarch der Familie. Er wird nicht müde, über das Schicksal seines Volkes zu klagen, das Unrecht zu beschreiben, sich über die Diffamierung zu empören: „Wir sollen Antisemiten sein. Wir sind die Semiten! Nicht die jüdischen Einwanderer. Wie können wir also Antisemiten sein?“ Er saß während der ersten Intifada im Gefängnis. Israelische Soldaten hatten sein Haus gestürmt. Die älteste Tochter stellte sich schützend vor das Schlafzimmer der kleinen Sundus. Er spricht wenig von dieser Zeit. Seine Töchter wissen von Folterungen zu berichten. Ghasub ist kein Heißsporn. Früher war er „Kommunist“, jetzt ist er Christ, engagiert bei der Bethlehemer Caritas. Wir fragen ihn, wie dieser so komplizierte Konflikt aufzulösen sei. Er antwortet ernst und selbstsicher im Urteil: „Uns kann niemand helfen.“ Und dann: „Helfen kann uns nur einer – der liebe Gott.“ Hoffnungsvoller und hoffnungsloser kann eine Perspektive nicht sein.
Die Familie Nasser ist in diesen Tagen fast vollständig. Sie traf sich zur Hochzeit der jüngsten Tochter. 600 Gäste feierten – eine normale palästinensische Hochzeit. Deutlich weniger wäre eine Kränkung der Familie gewesen.
Ghasub erklärt: „Wir sind eine christliche Familie. Meine Töchter müssen Christen heiraten. Die Verbindung mit einem Moslem ist undenkbar, so undenkbar wie die Heirat eines Chinesen oder Schwarzafrikaners. Wir müssen unter uns bleiben. Das ist unsere Art. Ein Rassist bin ich deswegen nicht.“
Zwei Tage nach der Hochzeit findet die Taufe statt. In der Nacht zuvor hören wir entfernt Feuerwerk – nichts Ungewöhnliches in der Westbank. Oft werden Hochzeiten so begleitet. Als wir morgens beim Frühstück sitzen (Fladenbrot, Hummus, Schafskäse, Olivenöl, Satar), erzählt der sonst zurückhaltende Ramzy: „Am nahen Checkpoint haben die israelischen Soldaten scharf auf protestierende Jugendliche geschossen, die mit Feuerwerkskörpern hantierten“.
Wir erinnern noch die entspannten und freundlichen Gesichter, als die Hochzeit von Simon und Sundus gefeiert wurde. Jetzt sind die Gastgeber angespannt und nervös. In der Rezeption der Herberge läuft fortwährend der Nachrichtenkanal und die Mitarbeiterin wendet kaum ihren Blick ab. Gaza ist 80 km entfernt. Die Raketen der Hamas erreichen Tel Aviv und das ist nicht weiter entfernt.
Wir sind die einzigen Gäste im „Abrahams Herberge“. Die Reisegruppen aus Europa, insbesondere aus Deutschland, haben abgesagt. Der Bibeltourismus verliert an Reiz, wenn die Realität des Landes zu deutlich hervor tritt. Israel ist die ökonomische Macht der Region, unterstützt von den großen Industrienationen. Gaza wird blockiert und kontrolliert, die Westbank hat einen bescheidenden Wohlstand erreicht – aber meilenweit vom Lebensstandard der Israelis entfernt. Der unheilige Kampf um das Heilige Land ist eine lange Kette nicht nur militärischer Niederlagen der Palästinenser. Zwei-Staaten-Lösung? Wie soll das gehen angesichts der ungerechten Verteilung der Güter? Die Israelis haben selbst die Tourismusstätten in den unter palästinensischer Verwaltung stehenden Gebieten okkupiert und saugen das Geld aus dem Land. Sie nehmen sich das Wasser des Jordans und betrachten das Land als Absatzgebiet für ihre Waren.
Kurz vor Beginn des Taufgottesdienstes erzählt jemand, die Hauptstraße „Paul VI“ sei gesperrt worden. Es gäbe Unruhen. Fragende Gesichter: Wie kommen wir zurück? Später stellt sich heraus, dass nicht in Bethlehem, sondern im benachbarten Beit Sahour Auseinandersetzungen zu Gewalt geführt hätten. Noch später hören wir, dass zwei Demonstranten angeschossen (oder erschossen?) worden sind. Was darf man glauben?
In diesen Tagen gedeihen Befürchtungen zu Gerüchten.
Aaliyah wird getauft. Arabische Segenssprüche wechseln mit deutschen Fürbitten, Orgel- mit Gitarrenmusik. Derweil schläft der erschöpfte Täufling, fern dieser Welt.
Die anschließende Feier im Restaurant findet nicht statt. Ein Solidaritätsstreik war ausgerufen worden. Die Geschäfte öffnen nicht und die Restaurants bleiben geschlossen. „Wir möchten ja“, meint der Wirt. „Aber wenn wir öffnen, kommt die Hamas“. Er spricht von Molotowcocktails. Ist es so oder frönt er der Neigung zur arabischen Übertreibung? Auch eine Facette des Konfliktes: Druck und gegenseitige Unterdrückung.
Der Tag schließt im Haus der Familie Nasser und Aaliyah genießt die Aufmerksamkeiten.
Wir schauen stündlich Nachrichten – Al Jazeera und ZDF über Satellit. Wir sehen Bilder wütender Israelis: „Tötet alle!“. Wir hören auf jeden Nebensatz der Reporter und analysieren die Gesten. Die meisten Gesellschaften fliegen den Flughafen Ben Gurion nicht mehr an, auch unsere nicht. Sitzen wir jetzt fest? Um uns ist alles ruhig, während wir auf der Terrasse im Abendlicht unsere Möglichkeiten abwägen: Einige Tage warten? Ausreise über Amman? El Al? Wir wollen am Flughafen die Situation klären. Arrak tröstet und der Muezzin begleitet das Iftar mit langem Gesang, der sich über die Stadt legt. Der Fastenmonat geht dem Ende entgegen.
Blutige Unruhen während der Nacht in Betlehem – Wir verabschieden uns von den Mitarbeitenden in der Herberge. Mohammed ruft hinter uns her: „Pray for us!“
Wir fahren nach Tel Aviv und haben Glück. Wir buchen auf die israelische Fluggesellschaft um und werden über Zürich zurück nach Berlin fliegen.
Im Flughafengebäude ist wenig Betrieb. Trotz der Drohungen geht das Leben weiter. Die Israelis vertrauen ihrem „Iron Dome“. Überall Hinweisschilder auf die Schutzräume und Plakate mit Verhaltensregeln. Wir warten auf den Abflug. Die Spannung löst sich erst, als wir fünf Minuten in der Luft sind.
Einen Tag nach unserer Rückkehr laufen wir bei Karstadt in die Demonstration für Palästina: „Frauenmörder Israel!“ und „Kindermörder Israel“ schallt es. Wir gehen ratlos vorbei. Wenn die Welt so einfach in Gut und Böse aufzuteilen wäre, wäre sie schon lange besser.
Nele Ruhe/Hans Georg Ruhe