Europa muss eine neue Hauptstadt bauen. Eine neue Stadt, deren Einrichtung die Leistung der Union ist, und nicht eine alte Reichs- oder Nations-Hauptstadt, in der die Union nur Untermieterin ist.
Also eine Art europäisches Brasilia? Ich finde das als Gedankenexperiment interessant, sagte Dana Dinescu, die rumänische Politikwissenschaftlerin, die in Bologna lehrte. Natürlich, sagte Erhart, kann man diese Stadt nicht in ein Niemandsland bauen. Es gibt in Europa kein Niemandsland mehr, keinen Quadratmeter Boden, der nicht eine Geschichte hat. Und deshalb muss die europäische Hauptstadt natürlich an einem Ort gebaut werden, dessen Geschichte maßgeblich für die Einigungsidee Europas war, eine Geschichte, die unser Europa überwinden will, zugleich aber niemals vergessen darf. Es muss ein Ort sein, wo die Geschichte spürbar und erlebbar bleibt, auch wenn der letzte gestorben ist, der sie erlebt oder überlebt hat…Und deshalb muss die Union ihre Hauptstadt in Auschwitz bauen. In Auschwitz muss die neue europäische Hauptstadt entstehen, geplant und errichtet als Stadt der Zukunft, zugleich die Stadt, die nie vergessen kann.
aus: Robert Menasse – Die Hauptstadt, Berlin 2017 (Suhrkamp)