„Geschichte zu haben“ ist eine soziale Notwendigkeit. In der modernen Gesellschaft kann nur existieren, wer seine Vergangenheit belegen kann: als Ausbildung, als Karriere oder als Familienangehöriger.
„Geschichte zu haben“ macht uns individuell und in Maßen erklärbar. Ohne darstellbare Geschichte können wir offenbar nicht funktionieren, fehlen für andere die Anschlussmöglichkeiten, sind wir nicht erkennbar. Deshalb wohl werden wir orientierungslos, wenn uns Menschen gegenüber treten, die ohne mitteilbare Geschichte scheinen.
In Zeiten mit immer stärker werdender Individualisierungsschüben bei gleichzeitiger kollektiver Kaschierung der Kenntlichkeit durch sogenannte Soziale Medien oder die duldenden Standards des „Alles geht“, nimmt die Notwendigkeit eigener Verortung zu, weil die Gesellschaft keine selbstverständlichen Plätze zuweist oder zur Verfügung stellen will.
Frühere Kulturen oder andere Kulturkreise wiesen solche Plätze noch zu. Wer als Freier geboren war, der lebte als Freier. Wer Leibeigner war, blieb dies ein Leben lang. Die Plätze waren definiert, die sich daraus ergebenden Lebensaufgaben waren jedem klar und lange unhinterfragt.
Wer unter dem selbstverständlichen und unhinterfragten Diktat solcher Zuweisungen lebte, brauchte keine weitere Verortungen, weil der Ort als solcher gesetzt war. Daraus entstand eine gewisse Sicherheit – vorausgesetzt, die harten Normen und festen Regeln wurden strikt beachtet. Alles, was zum bescheidenen Leben nötig war, war allen bekannt und wurde von allen geteilt. Das Leben verlief in gesicherter Gleichförmigkeit über Generationen hin.
In solchen Gesellschaftsformationen wurde nicht nach der Bedeutung des individuellen Lebens gefragt, wurde der Lebenssinn nicht begrübelt. Was zählte, war die sichernde Gemeinschaft, das Kollektiv in fixer Hierachisierung.
Erzählt über Generationen hinweg wurde allerdings die kollektive Geschichte. Sie verschaffte sich als gesellschaftliche Biografie in Märchen und Mythen Ausdruck, bildete Archetypen und Stereotypen aus, um die Gegenwart bestehbar zu machen. Einzelne verschwanden in den Mythen, ihre individuellen Lebenswirklichkeiten wurde nicht als Wert wahrgenommen. Persönliche Biografien, beschriebene oder aufgeschriebene individuelle Lebensgeschichten, wären hier ohne Sinn und Funktion gewesen.
Die Notwendigkeit, „eine Biografie zu haben“ und diese mitzuteilen, ist dann gegeben, wenn das Ich einer Erläuterung und einer Anerkennung bedarf, wenn die Gesellschaft allein lässt und stattdessen die Individualität fordert und favorisiert. Jeder und jede muss sich den eigenen Platz schaffen. Die Moderne verlangt diese Selbstständigkeit bis hin in die ökonomische Unabhängigkeit auch von der eigenen Familie – undenkbar in anderen Kulturen. Der Mensch trägt nicht nur seine Arbeitskraft zu Markte, sondern muss autonom handlungsfähig sein in je unterschiedlichen Sphären: als Familienangehöriger, Nachbar, Bürger, Freizeitpartner. Er soll unverwechselbar sein – eine Marke seiner selbst…
Hans Georg Ruhe: Praxishandbuch Biografiearbeit (Vorabdruck – erscheint 2014 bei Beltz/Juventa)