Vor fast neunzig Jahren veröffentlichte Bertolt Brecht seine “Radio-Theorie”. Nach dem Massenmedium Presse war ein zweites Medium mit erweiterten Möglichkeiten der Kommunikation entstanden. Der Fortschrittsdenker entwickelte fragmentarisch seine Radiotheorie. Liest man sie heute, so erscheint sie einem als parodistische Vorhersage der sogenannten Sozialen Medien und als Hohngelächter auf die Generation der Medienpädagogen, die davon geträumt haben, dass jeder Empfänger auch ein Sender wird und sich so die Verhältnisse ändern.
Brecht wollte die neue Qualität des Massenmediums nutzen, “positiv zu werden”. Er verlangte, den Rundfunk umzufunktionieren. “Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn auch in Beziehung zu setzen.“ Der Hörfunk könne den Austausch, Gespräche, Debatten und Dispute ermöglichen, die Regierung und Rechtspflege kontrollieren und so der “Folgenlosigkeit” (der Kommunikation) entgegentreten.
Für Brecht wäre das wohl ein großartiger Akt der Emanzipation, der gesellschaftlichen Veränderung, gewesen. Er wusste um die Utopie und fragte seine Leser. “Sollten Sie dies für utopisch halten, so bitte ich Sie, darüber nachzudenken, warum es utopisch ist.”
Es hat nicht einmal ein Jahrhundert gedauert, bis sich seine Utopie realisiert – freilich mit ganz anderen Effekten: Heute kann jeder Sender (“Influencer”) werden, seine Meinung äußern bis zur Beleidigung (in anoymen Kommentaren oder im “Shitstorm”). Jede Senderin kann eine Web-Seite eröffnen und durch kluges Marketing so viele “Follower” sammeln, dass die Redaktionen der Lokalzeitungen erblassen.
Der Kapitalismus hat es wieder geschafft: Er saugt jede Idee auf und verwertet sie so lange, bis sie eine Karikatur ihrer selbst ist.
Vielleicht hat Brecht davon wohl eine Ahnung gehabt, als er in seiner Radiotheorie auch schrieb: „Man hatte plötzlich [nach Erfindung des Rundfunks] die Möglichkeit, allen alles zu sagen, aber man hatte, wenn man es sich überlegte, nichts zu sagen.” Und später: “Ein Mann, der was zu sagen hat und keine Zuhörer findet, ist schlimm daran. Noch schlimmer sind Zuhörer daran, die keinen finden, der ihnen etwas zu sagen hat.“
Vgl.: Bertolt Brecht: Gesammelte Werke 18, Frankfurt a.M. 1967, S. 119-134 (“Radiotheorie 1927 bis 1932”)