Zeit-Lese

Sie ist die etwas frischere Tante des deutschen Journalismus: DIE ZEIT. Sie kommt kecker daher als die jungferliche Schwester FAZ und probiert sich seit Jahren in kreativer Blattbindung: Der Leser darf Briefe schreiben, zu Foren erscheinen, auf redaktionelle Kreuzfahrten gehen, im Zeit-Shop schlendern und aller Welt erklären, was das Leben reicher macht: offenbar jede Woche ein Spalte kunstvoll komponierter Sentimentalitäten. Das eingelegte ZEIT-Magazin unterscheidet schon lange nicht mehr zwischen redaktionellem Inhalt und Anzeigenverkauf. Da mögen die Rezepte von Elisabeth Raether in der Nachfolge von Legende Wolfram Siebeck noch so lecker sein oder Martenstein verzweifelt originell gegen den Strich texten. Giovanni de Lorenzo, der Charmebolzen als Chefredakteur, hat das Blatt populär gemacht – manchmal bis zur Peinlichkeit. Wohin soll sich der Bildungsbürger nur wenden? Nein, auch der SPIEGEL schöpft mittlerweile die selbe Sauce.

Ein Blick auf die Titelseite vom 19. Juni: Da wird uns erklärt, warum “Macht” so wichtig wie Liebe sei. Ach ja? Sie sei in Verruf geraten. So? Und das Menschen sie haben wollten und es eigentlich nicht schlimm sei. Das wissen wir jetzt auch. Dann erklärt uns AKK auf den Blattseiten, das wir Umdenken müssen (öko und so), Biergarten machten glücklich (ich dachte, besoffen) und dass wir alle Sehnsucht nach Vertrauen hätten. Hätte man alles “prominent ignorieren” können (so heißt eine Dauerspalte der ersten Seite).
Dann schreiben Journalist und Journalistin (voll Gender!) über Frauenfußball und hypen ihn mit der Überschrift “Frauen sind anders” auf intellektuelles Niveau. Klar, die Tante ist immer dabei, wenn es neue Verwertungsfelder zu finden gilt.
Mit einem einzigen Artikel versucht das neue Regenbogenblatt tatsächlich Politikjournalismus und landet böse auf der Nase: “Nichts ist vergangen – Vieles spricht dafür, dass zum ersten Mal seit Weimar ein Politiker von einem Rechtsextremen hingerichtet wurde” Da allerdings bleibt einem der Spott im Halse stecken. Rathenau als letztes Opfer der Rechten? Ernsthaft? Um einen originellen Gedanken zu produzieren, müssen dem Journalisten Wefing und der Blattredaktion alle Sicherungen durchgeknallt sein. Keine weiteren Toten, keine politischen Opfer seit 1922? Oder wird hier fein ziseliert unterschieden zwischen (Massen)morden an Sozialdemokraten, Kommunisten, Türken und exakten Kopfschüssen auf Terrassen? Oder differenziert die ZEIT gar, eine Hinrichtung sei halt eine Art Rechtsvollzug und keine Unrechtstat? Nein, so durchgeknallt ist Hamburg wirklich nicht.
Man legt erschöpft das Blatt zur Seite und heraus rutscht “Post von Margot Käßmann”. Es lächelt die Diva des deutschen Protestantismus für ihre Zeitschrift “Mitten im Leben”. Neee, bitte nicht noch mehr Käse….